Tina Teufel'

Thomas Riess. Die Seltsamkeit der Existenz



Unten trauern noch die Egoisten,
Major Tom denkt sich wenn die wüssten.
Mich führt hier ein Licht durch das All,
das kennt ihr noch nicht, ich komme bald,
mir wird kalt.
(1)

Undefinierte Orte, verschleierte Gesichter, wesenhafte Nebelschwaden, in den Werken des österreichischen Künstlers Thomas Riess spielen Fragen zu Raum und Zeit, (feinstoffliche) Wahrnehmung und ein Erkunden von Metaebenen eine große Rolle. Nichts ist, wie es scheint. Seine Protagonist_innen existieren in einer undefinierten Zone, einer twilight zone. So akribisch er als Maler seine Pinselstriche setzt und führt, so sehr für ihn auch ein an Perfektion grenzender Malstil wichtig ist, seinen Figuren und Landschaften haftet dennoch immer ein Hauch von Inexistenz, von Erscheinen und Verschwinden an, jenseits des Fassbaren.

Wenn man sich mit Thomas Riess unterhält, ist es genau das, was schnell zum Thema wird: eindrückliches (und ausdrückliches) Schwärmen über Pinselduktus, die Getriebenheit des Künstlers zur Schaffen – kein Zwang, einfach eine künstlerische Notwendigkeit. Da kann es schon mal bis weit in die Morgenstunden dauern, bis die Striche sitzen, bis die Oberfläche eines Kleides, die Finger einer Hand oder auch „einfach“ nur der Hintergrund dem Bild entspricht, das Thomas Riess im Sinn hat. Vor malerischen Meisterleistungen der Kunstgeschichte hat er größte Hochachtung. Es ist eine große Bereicherung, mit ihm durch Ausstellungen zu flanieren und sich einfach seinen Gedanken hinzugeben, eine wunderbare Ergänzung zu meinem eigenen Blick und meinen Gedanken als Kunsthistorikerin. Im gemeinsamen Sinnieren und Diskutieren fließt der Gesprächsfaden bald in Feinstoffliches über, in das Dazwischen, das kaum Wahrnehmbare, die dünne Schicht zwischen den Realitäten.

Eigentlich wollte Thomas Riess Musiker werden. Die Musik spielt immer noch eine große Rolle in seinem Leben. Mitten in seinem Atelier steht ein Schlagzeug, das er gerne nicht nur für Bandproben nutzt, sondern auch dafür, seinen Kopf frei zu bekommen. Genauso wie Streifzüge durch die Natur hilft ihm das, den Fokus zu behalten, Bildideen zu überdenken – oder einfach nur um mal abzuschalten. Die Affinität zur Musik ist auch in seinen Gemälden und Zeichnungen erkennbar; manche Werkserien könnte er durchaus auch mit musikalischen Tempi betiteln. Vielleicht lag es an der familiären „Vorbelastung“ – sein Urgroßonkel war Maler –, dass er dann doch den Weg zur bildenden Kunst gefunden und Malerei zu studieren begonnen hat. Seinen frühen Arbeiten haftet in meiner Wahrnehmung ein Suchen nach dem Raum an. Oft changieren die Handlungsorte seiner Protagonist_innen zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, zwischen tatsächlichem Raum und einer Art Bühne. Die Dargestellten selbst verschwimmen in ihrem Ringen um Existenz, sich kaum fassbar im malerischen Gestus auflösend. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass sich der Künstler selbst in vielen Werken wiederfindet. Die künstlerische Reise beginnt für viele bei sich selbst. Eine der Schlüsselarbeiten, und gleichzeitig Übergang in eine neue Schaffensphase, ist das Stop-Motion-Video „I am I am not“ (2013), das als Bild- und Zeichencollage fast alptraumhaft und in großer Geschwindigkeit die Betrachterin nicht nur am Arbeitsprozess des Künstlers, sondern vor allem an der Suche nach sich selbst teilhaben lässt. Schritt für Schritt werden Fotos, Zeitungs- und Magazinausschnitte, Farb- und Zeichenschichten zusammengestellt, überlagert, überarbeitet, neu interpretiert und zunächst teilweise, dann wieder gänzlich gelöscht: eine Erzählung in Bild und Tempo, 2.119 Elemente einer Assoziationskette verdichtet auf 6 Minuten und 46 Sekunden.


Major Tom. Die Seltsamkeit des Raums

This is Major Tom to Ground Control
I‘m stepping through the door
And I‘m floating in the most peculiar way
And the stars look very different today
(2)

Einsame Menschen in einem undefinierten Raum dominieren viele Gemälde von Thomas Riess. Von 2007 bis 2016 entstanden mittels einer speziellen Technik, dem Auftrag von Korrekturband auf meist schwarz grundierter Leinwand. Als klassische Malerei kann man diese Werke eigentlich nicht bezeichnen, es ist eher ein Herausarbeiten, ein Auftauchen von Bildinformation aus einem endlosen schwarzen Raum. Sie erinnern an die ersten Fotos, welche Mitte der 1960er-Jahre im Rahmen von NASA-Missionen mit teils verzerrten und in Streifen aufgeteilten Bildinformationen aus dem Weltraum auf die Erde geschickt worden waren. So verwundert es nicht, dass eine große Zahl an Werken dieser Serie auch die Raumfahrt thematisiert: Raumkapseln, Versatzstücke der Mondlandschaft und Raumfahrer_innen.

Gerade im Jubiläumsjahr der Mondlandung, das mit vielen Ausstellungen gewürdigt wird (3), erinnert man sich beim Thema Raumfahrt oft zuallererst an ein Lied, das unsere Kindheit in den 1980er-Jahren geprägt hat: Space Oddity von David Bowie, das dieser 1969 geschrieben hatte, dem Jahr, in dem mit der Landung des ersten Menschen auf dem Mond Geschichte geschrieben worden war (4).  Major Tom von Peter Schilling als deutsche Adaptierung könnte als Assoziation passender nicht sein: der Künstler Thomas Riess, der Reisende im Ungewissen, seine Werke das Reisetagebuch. Die Reisenden in den Werken aus Korrekturband sind jedoch nicht nur im Weltraum unterwegs, sondern als Taucher_innen in den Untiefen des Meeres, als Liquidatoren entfernen sie Spuren, die nicht erhalten bleiben sollen. Ihre Anonymität wird durch ihre Schutzkleidung gewahrt. Im Gegensatz dazu stehen die „Randpersönlichkeiten“, denen Thomas Riess in der Serie „Lost Faces“ als Kontrapunkt ein Gesicht gibt: am Rande der Gesellschaft lebende Menschen, die für uns so oft unsichtbar sind, Obdachlose, die aus dem Schatten ihrer Existenz und losgelöst aus ihrem Umfeld mit der Betitelung der Werke eine Identität bekommen. Schon minimale Bildinformationen genügen, um in unseren Köpfen Bilder entstehen zu lassen. Die Verdichtung der Korrekturbandstreifen verändert das Raumgefüge, Assoziationen zu klinischer Enge tauchen auf. Somit wird der starke Kontrast zwischen Schwarz und Weiß auch in der Raumwahrnehmung evident. Der Schutzanzug schützt nicht nur den Menschen vor unwirtlichen Bedingungen, sondern auch den Raum vor Kontamination durch den Menschen. In der Auseinandersetzung mit schwer zugänglichen Orten wie dem Weltraum oder den Tiefen des Meeres relativiert sich die menschliche Wahrnehmung von Zeit und Raum, führt sich vieles, das wir in unserem eingeschränkten Spektrum als Konstante festgelegt haben, ad absurdum.

Nach einer Pause tauchen sie wieder in Thomas Riess‘ Arbeiten auf, die Astronauten und Liquidatoren (5), diesmal in technisch perfekt gemalten Ölgemälden, die bewusst mit Schärfe und Unschärfe spielen. Bei der Betrachtung seiner Arbeiten kann man sich schon mal verlieren, stößt auf die Grenzen, das Wahrgenommene und Empfundene in Worte fassen zu können. Thomas Riess wählt eine Metaebene, um die teils unsicht- und undarstellbare psychische und physische Einsamkeit wahrnehmbar zu machen: teils durch die gesättigte Farbigkeit des Hintergrundes in tiefstem Schwarz oder mystischem Ultramarin, teils über die in den Gemälden schwebenden Blurs.


Blurs. Die Seltsamkeit der Erscheinung


There’s a starman waiting in the sky
He’d like to come and meet us
But he thinks he’d blow our minds
(6)

Major Tom, der einsame Astronaut, wird sowohl bei David Bowie als auch bei Peter Schilling von einem Licht durch das All geführt. Im Volksglauben vieler Regionen sind Irrlichter unerklärbare Leuchterscheinungen, die jene, die ihnen folgen und ihrer Verlockung nicht widerstehen können, ins Unglück stürzen. Gänzlich frei von böser (aber auch guter) Intention sind die Erscheinungen, in den Gemälden von Thomas Riess, die er als „Blurs“ (7)  bezeichnet. Sie sprechen das elementare Bewusstsein der Menschen an, können als Kontakt in eine andere Sphäre der Wahrnehmung, aber auch als Blick in die eigene Psyche interpretiert werden. Die „Blurs“ sind nicht nur Erscheinungen im Zwielicht zwischen Welten und Tageszeiten, sie erscheinen genau dort, wo die Darstellung zu genau wird, wo die Bildsprache und der Duktus zu ausformuliert sind. Als expressive Geste huldigen sie der Unschärfe in einer Komposition, in der die Malerei versucht, das fotografische Bild zu übertreffen. Ob in Landschaften, im Weltraum oder in von Menschen geschaffenen Räumen, man merkt schnell, dass außerhalb unseres Bild- und Wahrnehmungsfeldes mehrere dieser Erscheinungen anwesend sind, sich diese Wesen nicht an die physikalischen Gesetze unseres Planeten halten (müssen). Oder handelt es sich um Trug- und Traumbilder, die sich vor unserem inneren Auge auflösen, sich uns entziehen, bevor sie (be)greifbar werden konnten?

Mit dem Wissen, dass Thomas Riess ein präziser Maler ist, ist klar, dass auch bei den „Blurs“ jeder Strich exakt gesetzt, keine Ausführung eines Bildelements dem Zufall überlassen ist. Er setzt genau dort an, wo Menschen am Gesehenen zu zweifeln beginnen, ihre Neugierde angeregt wird. Die „Blurs“ sind Bewegung des Körpers und des Geistes, Auflösung und Manifestation zugleich. Sie bewegen sich in Zwischenwelten und Zwischenzeiten.


Augenblick und Ewigkeit. Die Seltsamkeit der Zeit


Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.
(8)

Was können wir glauben? Können wir unseren Augen, unserer Wahrnehmung trauen? Wie viel ist davon beeinflusst, was wir zu wissen glauben, was uns als Wissen vermittelt wurde? Wie können wir das, was Menschen fühlen, selbst wahrnehmen? Der Gedankenraum spiegelt sich oft in Gesichtern wieder, genauso wie Lebenserfahrung und -ereignisse uns, vor allem unsere Gesichter zeichnen. Es kommt also nicht von ungefähr, dass Thomas Riess die Gesichter seiner Protagonist_innen verschwinden lässt, sie bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, übermalt oder sie hinter Masken verschiedenster Art versteckt. Die „Idols“ sind Darsteller_innen eines scheinbar perfekten Lebens, hervorragend gekleidete Models einer viel zu glatten, oberflächlichen Welt. Was hinter der Fassade steckt, bleibt im Verborgenen. In unserer medial reizüberfluteten Welt, in der Alterungsprozesse ausgehebelt werden sollen, die Zeit beherrscht, gleichzeitig stillstehen und rasant voranschreiten soll, bleibt die Individualität oft im Verborgenen wie die Unsicherheiten, die sich hinter der untadelhaften Maske zu verstecken suchen. Das Plakative versucht sich durchzusetzen. Aber es bleibt immer etwas nicht fassbares enthalten, auch in den perfektesten Gemälden, dem schicksten Dekor aus Kleidung und selbstbewusster Pose. Dieser feine Bruch ist genau das, an dem wir als Betrachter_innen hängen bleiben, Fragen stellen, nachhaken und durchaus nach dem bohren, was wir unter der makellosen Epidermis vermuten. „Ein Gedanke manifestiert sich nicht“ heißt eines der jüngsten Gemälde des Künstlers und drückt genau diesen Moment aus, indem man versucht, das wahrgenommene zu verarbeiten, zu benennen, ihm eine Form zu geben, aber oft manifestieren sich Gedanken nicht, sind volatil und machen sofort wieder neuen Gedanken Platz, so wie der „Gute Geist“, der durch uns zu wirbeln scheint – ein Hauch von nichts auf Leinwand, aber gerade so viel, dass er einem bekannt vorkommt, und als Erinnerungsfetzen erhalten bleibt.

Tina Teufel (Kuratorin Museum der Moderne Salzburg)


(1)  Peter Schilling, Major Tom, 1982, siehe: https://www.songtexte.com/songt...t-43dcfbef.html  (15.9.2018)
(2) David Bowie, Space Oddity, 1969, https://g.co/kgs/29EuUM  (18.8.2019)
(3) Thomas Riess ist mit jeweils zwei Werken in zweien dieser Ausstellungen vertreten: „Ticket to the Moon“ in der Kunsthalle Krems und „Fly Me to the Moon“ im Museum der Moderne Salzburg. Beide Ausstellungen sind noch bis 3. November 2019 zu sehen.
(4) Bowies Lied bezieht sich auf Stanley Kubricks Meisterwerk 2001: Odyssee im Weltraum, das im Jahr zuvor erschienen war. Der Titel ist somit ein Wortspiel, das die Eigenheit oder Seltsamkeit des Weltraums, der auch nach fünfzig Jahren eine ungebrochene Faszination auf den Menschen ausübt, mit einer Irrfahrt gleichsetzt, einer Reise ins Ungewisse, aus der es vermeintlich kein Zurück gibt.
(5) Thomas Riess versteht seine Figuren bewusst androgyn, verwehrt sich, wenn man ihn darauf anspricht, einer eindeutigen geschlechtlichen Zuordnung.
(6) David Bowie, Starman, 1972, aus dem Album „The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“
(7) Aus dem Englischen kann dies mit Flecken, Kleckse, aber auch Unklarheit oder Unschärfe übersetzt werden. „to blur“ bedeutet zudem auch „etwas zu trüben, verschwimmen zu lassen“.
(8) Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, 1886, Aph. 132.