Günther Oberhollenzer'

Von dem Versuch, die Zeit zu zeichnen


Eine Annäherung an die Zeichnungen, Collagen und Videos von Thomas Riess

„Die Welt vergessend, um in seinem Werk zu leben,
schafft der Künstler in seinem Werk eine Welt.“

Friedrich Spielhagen (1829 - 1911), deutscher Schriftsteller


Sprache stößt immer wieder an ihre Grenzen, wenn es darum geht, über Kunst zu schreiben, sie zu beschreiben oder zu interpretieren. Gerade im vorliegenden Fall scheint das eine besondere Herausforderung zu sein. Wie kann man sich in einem Text von überschaubarer Länge einem Künstler wie Thomas Riess nähern, der mit hunderten Zeichnungen, aber auch Videos und Malereien ein überaus vielschichtiges, heterogenes Schaffen vorliegt, bei dem jede Arbeit, jede einzelne Zeichnung ganze Geschichten in sich bergen? Riess weiß vieles über seine Kunstwerke zu erzählen. Doch soll die Entstehungsgeschichte, die Inspiration des Künstlers, seine Intention überhaupt offenbart werden? Nimmt man dadurch der Kunst nicht ihren Reiz, ihr Rätsel? Gleichzeitig möchte der Leser etwas über die Gedankenwelt des Künstlers erfahren, um leichter einen Zugang zum Werk zu finden. Der folgende Text basiert auf Gesprächen mit dem Künstler und versucht eine Gradwanderung. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich einige mir wesentliche Aspekte seines künstlerischen Schaffens beschreiben, in der Hoffnung, neugierig auf die Arbeiten zu machen, ihnen aber gleichzeitig die notwendige Offenheit und Interpretationsvielfalt zu lassen. Ich sehe meine Herangehensweise weniger als kunstanalytischen Diskurs sondern mehr als eine persönliche Annäherung, getragen von einer großen Begeisterung insbesondere für die grafischen Arbeiten – übrigens ein künstlerisches Medium, dem im zeitgenössischen Kunstbetrieb leider oft viel zu wenig Beachtung geschenkt wird.

Es ist Privileg und Fähigkeit des Künstlers, genährt aus Erfahrung und Wissen, sich seine eigene Welt zu imaginieren, mit selbst erwähltem Regelwerk und Gesetz – eine Schöpfung, die zugleich zurückstrahlt auf unser Leben und über unsere Existenz erzählt. Thomas Riess ist ein solcher Künstler. Riess ist Sammler, ein Sammler von Bildern. Zahllose Abbildungen aus Zeitschriften und Prospekten, Zeitungen und alten Büchern finden sich in seinem Fundus. Sie sind Inspirationsquelle und Arbeitsmaterial für immer neue Zeichnungen, Malereien und Collagen, die seine ganz persönliche Sicht auf die Welt offenbaren. In einer künstlerischen Analyse bearbeitet und verändert Riess das vorgefundene Bildmaterial, um in einem selbstbestimmten Sehen „den Realitätsbezug in Frage zu stellen“, wie er selbst betont. Unsere Wirklichkeit ist von medial generierten Bildern beherrscht, ob nun Werbesujet oder „normale“ Fotografie, (fast) immer scheint vorgeschrieben zu sein, wie wir etwas zu sehen haben: ein bestimmter Blickwinkel wird festgelegt, zwischen Vorder- und Hintergrund, Oben und Unten unterschieden, eine konkrete Bedeutung durch Bedeutungsträger suggeriert. Dem möchte Riess entgegenwirken, indem er gängige Betrachtungsmuster aufbricht. In seinen grafischen Arbeiten gehen Fotografie, Malerei und Zeichnung symbiotische Verbindungen ein. Durch Übermalungen isoliert der Künstler Bilddetails und weist ihnen einen neuen Sinngehalt zu, er lässt mitten in einer Fotografie abstrakte (und doch wie gegenständlich wirkende) Malkleckse auftauchen oder collagiert verschiedene Fotoschnipsel zu ungewohnten Bildzusammenhängen. Riess geht den Bildstrukturen auf den Grund und strebt eine „objektivere“ Wahrnehmung des Gegenstandes an, indem er z.B. alle vorhandenen Linien und Konturen einer Fotografie mit einem Stift nachfährt oder alle grünen Töne einer Waldlandschaft mit weißer Acrylfarbe übermalt. So erfährt jedes Detail die gleiche Wertigkeit und Aufmerksamkeit – wobei die malerische Auseinandersetzung dem Bild eine neue Bedeutung verleiht und der vormals grüne Wald in der Arbeit „Scan“ nun wie eine Winterlandschaft erscheint.

Riess ist ein hervorragender Zeichner, die grafischen Arbeiten wirken wie lockere, frei festgehaltene Gedankenblasen des Künstlers. Besonders in der Verbindung von Zeichnung und Malerei, Fotografie und Übermalung, Zeichnung und collagierte Fotografie spielt er mit Blick- und Bildkonventionen, mit Sein und Schein, mit dem Abbild und seiner Wahrnehmung. Er übermalt mit dunkler Farbe Schilder, die von Soldaten im Gleichschritt getragen werden, tilgt Menschen aus Fotografien und hinterlässt nur mehr ihre Schatten und Spiegelungen, er setzt einer Heiligenfigur eine Star-Wars-Maske auf den Kopf oder verwandelt die Türme des Wiener Rathauses in abschussbereite Raketen. Der Künstler geht geschickt vor, oft weiß man nicht (oder zumindest nicht auf den ersten Blick), welche Details des Bildes manipuliert sind oder wo das fotografische Abbild in die Malerei übergeht. Die Übermalungen geschehen rasch und sind bewusst nicht „sauber“ ausgeführt – so werden den nicht bemalten Stellen Raum gegeben und die einzelne Bildteile in eine spannungsvolle Dynamik zueinander gesetzt. Ein wesentlicher Teil des Schaffungsprozesses sind die Titel. Riess legt sie im Akt des Tuns, während des Arbeitens fest, wobei die Wort-Bildkombinationen so offen gehalten sind, dass ein freier Assoziationsprozess gewährleistet ist. Alle grafischen Arbeiten versteht der Künstler als eigenständige Werke. Im Zeichnerisch-Grafischen findet die primäre, grundlegende Auseinandersetzung statt, wobei manche Motive und Ideen in den großen Malereien übernommen werden und dem unmittelbar Skizzenhaften eine geplante Zufälligkeit mit stärker ausformulierter Bildsprache weicht.

Der kreative Prozess der Bildwerdung kann in Grafik und Malerei vom Betrachter nur erahnt werden, er sieht in erster Linie nur das statische „Endprodukt“. Die Videos „I am I am not“ und „Time“ sind ein künstlerischer Versuch, den malerisch-zeichnerischen Prozess sichtbar zu machen. „I am I am not“ etwa besteht aus 2730 Einzelfotos, angefertigt in rund zwei Monaten und zu einer rhythmischen Abfolge montiert. Das Video lässt tief in die Gedankenwelt des Künstlers blicken: Ungefiltert legt Riess offen, wie er ein Bild aufbaut und bearbeitet, eine Collage einsetzt oder diese auch wieder übermalt. Es ist selten, dass ein Künstler den Betrachter so bereitwillig über die Schulter schauen lässt. Man sollte die Videoarbeit aber nicht mit einer Dokumentation verwechseln. Der Akt des künstlerischen Tuns wird hier zum Kunstwerk erklärt: Das Video kennt keinen Anfang und kein Ende, es gibt nicht das fertige Werk und den Weg dorthin, sondern sich ständig wandelnde, immer wieder neu entstehende und übermalte Zeichnungen und Collagen. „Spannend und herausfordernd an dieser Art des Arbeitens ist“, so der Künstler, „dass man kein Konzept vorbereiten kann, sondern spontan auf das Vorgefundene reagieren muss“. Die Folge ist, dass es keine geschlossene Erzählung gibt bzw. geben kann, narrative Elemente tauchen zwar auf, sie werden aber nicht konsequent verfolgt. Auch wenn man als Betrachter nicht alle Bilder in den Videos verstehen oder entschlüsseln kann (und das wohl auch nicht soll, macht doch oft gerade die Rätselhaftigkeit den Reiz eines Kunstwerkes aus), der poetisch melancholischen Bildersprache – wunderbar betont in „Time“ durch den Song „Valtari“ von Sigur Rós – kann man sich kaum entziehen. Zitate aus der Film- und Popkultur (z.B. die „Anonymous“-Maske) mischen sich mit kunsthistorischen Verweisen („memento mori“-Motiv) zu einer kritischen Selbstbeschau des Menschen, einer existenziellen Auseinandersetzung mit Veränderung und Vergänglichkeit, mit Auslöschung und Wiedergeburt. Doch spätestens wenn gegen Ende von „Time“ eine Frau in einer zum Raumschiff umfunktionierten Badewanne durch das Weltall fliegt, wird klar, dass das alles nicht todernst gemeint ist. Es fällt angenehm auf, dass sich Riess in seiner Arbeit gerne des Humors und der Ironie (wie auch einer comicartigen Sprache) bedient, und damit nicht dem Missverständnis Glauben schenkt, Kunst müsse todernst sein, da der Witz auf Kosten des Tiefgangs gehe. Sein fantastisch surrealer Bilderkosmos strotzt vor komischen und skurrilen, aber auch grotesken und sonderbaren Einfällen. Und so tauchen wir in den Videos völlig in Welt des Künstlers ein – einer Welt, die als eine Selbstvergewisserung seines kreativen Prozesses gelesen werden kann, aber auch als Versuch, die dafür aufgewendete Zeit zeichnerisch einzufangen und festzuhalten.

Immer wieder sind im Video Fotos des Künstlers zu sehen, gelegentlich finden sich diese auch in den Einzelzeichnungen. Über drei Jahre hat Riess sich selbst fotografiert. Er spielt verschiedene Rollen, sein Abbild steht weniger für die eigene Person, denn für den Menschen an sich – der Künstler als Versuchsobjekt, da immer verfüg- und analysierbar. Das Wesen der Menschen liegt in den Augen, sie sind das Spiegelbild der Seele, deshalb trägt Riess auf den Fotos meist Brillen mit Spiegelglas. Das innere Ich bleibt verborgen und seine Person wird zum Stellvertreter, zur Hülle oder Maske, in die wir als Betrachter schlüpfen können. Häufiger noch als sein Selbst begegnen uns Tiefseetaucher, Astronauten oder andere Schutzanzugträger. Diese Motive ziehen sich wie ein roter Faden durch Riess’ Werk. Schwebend im luftleeren Raum, isoliert und allein, manchmal durch Schläuche miteinander verbunden, wirken die Gestalten einsam, auch hilflos in ihrer nicht näher definierten Umgebung. Eine Astronauten- oder Taucherausrüstung erlaubt es dem Menschen, in eine unwirtliche, menschenfeindliche Umwelt vorzudringen, sie können nur überleben, wenn sie mit dieser nicht direkt in Berührung kommen. Der Anzug wird zur künstlichen, schützenden zweiten Haut, die die Grenze zwischen dem Menschen (das Innen) und seinen Umraum (das Außen) symbolisiert. Mensch und Maschine, Eigen- und Fremdmechanik, biologischer Körper und seine technischen Erweiterungen finden in Zeichnungen und Collagen immer wieder ihren Niederschlag, wobei die Gasmaske – ein ebenfalls beliebtes Motiv – an den Atmungsprozess des Menschen denken lässt. „Das Atmen ist ein Akt der primären Polarität“, so Riess, „ähnlich der Abfolge von 0 und 1“. Im Ein- und Ausatmen wird das Außen in ein Innen und das Innen in ein Außen verwandelt und die Grenze zwischen dem „Selbst“ und dem „Außen“ aufgehoben und überwunden.

Seit jeher übt der Schädelknochen eine Faszination auf uns Menschen aus, so auch auf Riess. In der Kunst ist er ein beliebtes Sujet, um den Betrachter mit Vergänglichkeit und Tod zu konfrontieren. Die Rezeption und Darstellung des Totenkopfes hat aber schon längst in der Popkultur Eingang gefunden, gar nicht mehr bedeutungsschwer aufgeladen wird er hier oft auf einen oberflächlichen (Schock-)Effekt reduziert. Dennoch ist die Auseinandersetzung mit dem Tod nach wie vor ein Tabuthema. „Heute ist der Tod allgegenwärtig aber wie nehmen ihn nicht persönlich“, betont Riess. In seinen Arbeiten tritt der Tod immer wieder personifiziert als Mahner für die Endlichkeit des Seins auf, z.B. als „der gute Hirte“, oder in ganz neuem Gewand – in „meeting point“ (was für ein treffender Titel!) trägt er einen schicken Anzug und ein Handy, der Kopf des Models wurde mit einem Totenkopf übermalt. Durch den künstlerischen Eingriff erfährt das fotografische Werbesujet („Peek & Cloppenburg“ wurde bewusst nicht wegretuschiert) eine Neudeutung, nicht ohne wieder Raum für ein Augenzwinkern zu lassen. Riess möchte den Totenkopf aber nicht auf einen „memento mori“-Gedanken reduziert wissen. Für ihn ist der Kopf, insbesondere der Schädel Träger des Gehirns und damit des Denken und Handeln, des Seins und auch der Seele. Er bildet die materielle Hülle für das kaum Greifbare der menschlichen Existenz, die Knochen sind letztendlich auch die einzigen Körperteile, die die Zeit des Lebens weit überdauern. Den Schädel bezeichnet Riess als „Träger der Schalterzentrale“ oder als „Transportvehikel“, und so ist es nicht verwunderlich, dass sie in seinen neuen „Tipp-Ex-Arbeiten“ mehr „wie ein Unterbau eines Raumschiffes ausschauen und weniger wie eine anatomische Studie“.

Durch den grandiosen Kunstgriff, mit einem weißen Korrekturbandroller in eine schwarz grundierte Leinwand (maskierte) Gesichter und Körper einzuschreiben, erweitert Riess den traditionellen Malereibegriff um eine außergewöhnliche wie raffinierte Komponente. Doch auch das grafische Werk, dem das Hauptaugenmerk in diesem Katalog gilt, steht den Tipp-Ex-Arbeiten in künstlerischer Hinsicht um nichts nach. Das kluge Spiel der unterschiedlichen Medien und Bedeutungen, der spannungsreiche Dialog zwischen Malerei, Zeichnung und Fotografie, die bewusste Irreführung und gleichzeitig Schärfung des Blickes wie auch der überbordende Ideenreichtum des Künstlers überraschen und fordern uns Betrachter immer wieder auf Neue heraus. Aber wie auch immer, das Wort bleibt an der Oberfläche, die visuelle Erfahrung und Auseinandersetzung direkt vor dem Kunstwerk kann es nicht ersetzen.  

Günther Oberhollenzer (Kurator Essl Museum)


Die Gespräche mit Thomas Riess wurden im Sommer 2013 geführt.