Ingeborg Erhart'

THOMAS RIESS ... von 01 beginnend


 
Thomas Riess zeigt 250 Arbeiten in verschiedenen Techniken auf Papier im Format 20 x 20 cm. Sie sind als eine Art Tagebuch - manchmal sogar Stundenbuch - zu verstehen. Der Rhythmus der Entstehung ist kein festgeschriebener. Oft entstehen in kurzer Zeit sehr viele Blätter und dann wieder einige Tage lang gar keine. Thomas Riess lässt sich ein – auf das was ihm begegnet und auf sich selbst; ein Oszillieren zwischen Innen und Außen, das sich in unterschiedlichen Abstraktionsgraden manifestiert. Physische Auseinandersetzung, Selbstinszenierung und das Visualisieren von Befindlichkeit wechseln sich ab mit ironischer Reflexion des Alltagsgeschehens und dem Ausloten von Wahrnehmung und historisch-philosophischen Fragestellungen. Hierzu ist dem Künstler „jedes Mittel recht“: von der Zeichnung mit Bleistift, Buntstift und Kugelschreiber über Gouache und Aquarell bis hin zu Collagen mit Zeitungsausschnitten, Gegenständen und Eigenhaut und -haar.

Wesentlich ist auch die sprachliche Ebene, die Werktitel als „zusätzliche Farbe“ auftauchen lässt – wie es Beate Mayr zu den Zeichnungen in Thomas Riess´ Katalog, 1sichten, Malerei und Zeichnung, 2003, beschreibt. Die Titel „geben etwas dazu, lassen die Arbeiten jedoch nie zu Illustrationen werden, sondern stehen ihnen als Kontrapunkt gegenüber.“ Diese minimalistische lyrische Zugabe zur bildnerischen Arbeit kann sowohl poetisch als auch zynisch, sowohl dramatisch berührend als auch mit beißendem Witz vorgetragen werden. Als Beispiele seien hier nur „Haarkrone Abendstern“ und „Gemeiner Blasengel“ genannt. Letzterer entstammt einer Serie, die zur „Aufarbeitung des Weihnachtstraumas“ entstand – einer kritischen Auseinandersetzung mit der Überlagerung des eigentlichen Sinns des Fests mit Shopping- und Kitschwahnsinn. „Haarkrone Abendstern“ ist golden eingefärbtes Eigenhaar auf schwarzen Grund geklebt. Diese Arbeit sei in diesem kurzen Text aus zwei Gründen erwähnt: einerseits um die Bedeutung des Eigenversuchs hervorzustreichen und andererseits um „Gold“ zu thematisieren. Gold steht schon seit jeher für Transzendenz, das Paradies, das Besondere und den Sieger. So setzt Thomas Riess dieses Stilmittel auch unterschiedlich ein: um Bedeutung zu schaffen und Rückbezüge herzustellen. Die mittelalterliche Kunst und v.a. die Buchmalerei interessieren den Künstler und während der Arbeit hört er gerne Madrigale. Als eine Hommage an den flämischen Maler Petrus Christus bzw. an dessen Portrait einer jungen Frau (um 1446) und deren besonderen Blick hat Thomas Riess das Gemälde in seine Formensprache transformiert.  

Die „très riches heures“• –  „die schönsten/bedeutendsten Stunden“ von Thomas Riess des vergangenen Jahres sind in der Stadtturmgalerie „... von 01 beginnend“ zu sehen. Dem Künstler geht es um Ehrlichkeit und so wird seine bewusst subjektive Sicht auch auf unangenehme und unbequeme Dinge nicht ausgespart. Entblößt schützt nur mehr eine Sonnenbrille. Die Brille wird vom Künstler, der sich selbst als „fast schon Brillenfetischist“ bezeichnet, als wiederkehrendes Motiv eingesetzt. Sie dient der Abgrenzung und fungiert als Spiegel – ist daher also selbstreflexiv für den Künstler und vice versa für die Betrachterin/den Betrachter. Thomas Riess lässt den Rezipienten an seinen Gedankengängen, seinen Experimenten und seiner Wahrnehmung des eigenen Körpers teilhaben. Er rüttelt mit verhaltener Geste auf und lässt ihn dadurch vielleicht auch ins eigene Selbst eintauchen. Thomas Riess entwickelt zipfelmützenartige Hirnfortsätze, Gedanken, die sich aus Schnittmustern herausschälen und immer wieder wird Luft zum Thema: der Schwebezustand, das Fliegen im Traum genauso wie das Atmen. Das Ein- und Ausatmen ist ein lebensnotwendiger Automatismus, der uns erst bewusst wird, wenn er nicht mehr von selbst funktioniert. Sauger, Gasmasken, das mit Paketband zugeklebte Selbstportrait, der Totenschädel auf Silbergrund mit rot gekennzeichneter Nasenregion oder der zu Lungenflügeln mutierte Hypoxy-Trainer rühren von der Beschäftigung des Künstlers mit der Atmung her. Der Fisch am Kopf dient als „Taucherausrüstung“ für Ausflüge in andere Sphären der Wahrnehmung. Thomas Riess hält mit „Ablegen unangenehmer Geschwindigkeit“ inne und sich mit einem unsichtbaren
Spiegelbild, gemalt mit Fett, fest.

Ingeborg Erhart (Kuratorin)

                                               
• Reminiszenz der Autorin an "Très riches Heures du Duc de Berry", das berühmte Stundenbuch, das die Brüder von Limburg (um 1500) für Herzog Jean de Berry aus Burgund anfertigten

www.kuenstlerschaft.at